In § 58 Abs. 2 S. 2 RVG hat der Gesetzgeber mit dem KostRMoG 2021 eine neue Anrechnungsregelung für PKH-/VKH-Fälle eingeführt. Hintergrund war die Streitfrage, wie eine Wahlanwaltsgeschäftsgebühr auf die aus der Landeskasse zu zahlende Vergütung anzurechnen ist, wenn für das gerichtliche Verfahren Prozess- oder Verfahrenskostenhilfe bewilligt und der Anwalt/die Anwältin beigeordnet worden ist.
Beispiel 1:
Die Anwältin war außergerichtlich als Wahlanwältin mit einem Gegenstandswert von 6.000 Euro für den Mandanten tätig. Die Bewilligung von Beratungshilfe kam nicht in Betracht. Hiernach kommt es zum gerichtlichen Verfahren, in dem die Anwältin ihrem Mandanten im Wege der Prozesskostenhilfe gegen Ratenzahlung beigeordnet wird. Nach mündlicher Verhandlung ergeht ein Urteil.
Vorgerichtlich hatte die Anwältin mit dem Mandanten nach den Wahlanwaltsbeträgen des § 13 RVG wie folgt abgerechnet (alte Gebührenbeträge):
- 1,3-Geschäftsgebühr, Nr. 2300 VV (Wert: 6.000,00 €)
- Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV
Zwischensumme
- 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV
Gesamt
460,20 €
20,00 €
480,20 €
91,24 €
571,44 €
Zum Teil wurde vertreten, dass die erhaltene Geschäftsgebühr zur Hälfte auf die nachfolgende Verfahrensgebühr anzurechnen sei. Dies ergab dann im gerichtlichen Verfahren folgende Berechnung (alte Gebührenbeträge):
- 1,3-Verfahrensgebühr, Nr. 3100 VV, § 49 RVG
(Wert: 6.000,00 €) - gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV, § 13 RVG anzurechnen
0,65 aus 6.000,00 €
- 1,2-Terminsgebühr, Nr. 3104 VV, § 49 RVG (6.000,00 €)
- Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV 20,00 €
Zwischensumme
- 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV
Gesamt
347,10 €
-230,10 €
320,40 €
20,00 €
457,40 €
86,91 €
544,31 €
Das konnte dazu führen, dass die hälftige Wahlanwaltsgeschäftsgebühr höher ausfiel als die volle PKH-Verfahrensgebühr und damit vollständig unterging.
Nach anderer Auffassung war die hälftige Geschäftsgebühr zunächst auf die Differenz zwischen den Wahlanwaltsgebühren und den PKH-Gebühren anzurechnen. Danach war zunächst diese Differenz wie folgt zu ermitteln:
- 1,3-Verfahrensgebühr, Nr. 3100 VV, 13 RVG (Wert: 6.000,00 €)
- ./. 1,3-Verfahrensgebühr, Nr. 3100 VV, § 49 RVG (Wert: 6.000,00 €)
- 1,2-Terminsgebühr, Nr. 3104 VV, 13 RVG (6.000,00 €)
- ./. 1,2-Terminsgebühr, Nr. 3104 VV, § 49 RVG (6.000,00 €)
Differenz
460,20 €
-347,10 €
424,80 €
-320,40 €
217,50 €
Dies ergab dann folgende Berechnung:
- 1,3-Verfahrensgebühr, Nr. 3100 VV, § 49 RVG
(Wert: 6.000,00 €) - gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV, § 13 RVG anzurechnen
0,65 aus 6.000,00 €
davon nach § 58 Abs. 2 RVG anrechnungsfrei zur Anrechnung verleiben
- 1,2-Terminsgebühr, Nr. 3104 VV, § 49 RVG
(Wert: 6.000,00 €) - Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV
Zwischensumme
- 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV 128,23 €
Gesamt
347,10 €
-230,10 €
217,50 €
-12,60 €
320,40 €
20,00 €
662,30 €
128,23 €
790,53€
Nach neuem Recht ist ein Mittelweg zu gehen. Der neue § 58 Abs. 2 S. 2 RVG stellt Folgendes klar: Ist eine Gebühr, für die ein Anspruch gegen die Staatskasse nicht besteht, auf eine Gebühr anzurechnen, für die ein Anspruch gegen die Staatskasse besteht, vermindert sich der Anspruch gegen die Staatskasse insoweit, als der Rechtsanwalt/die Rechtsanwältin insgesamt durch eine Zahlung auf die anzurechnende Gebühr und den Anspruch auf die ohne Anrechnung ermittelte andere Gebühr mehr als den sich aus § 15a Abs. 1 RVG ergebenden Gesamtbetrag erhalten würde.
Vereinfacht ausgedrückt: Die Differenz zwischen dem jeweiligen Gebührenbetrag aus § 13 RVG und dem aus § 49 RVG bleibt anrechnungsfrei.
§ 58 Anrechnung von Vorschüssen und Zahlungen
(2) 2 Ist eine Gebühr, für die kein Anspruch gegen die Staatskasse besteht, | = Wahlanwaltsgeschäftsgebühr |
auf eine Gebühr anzurechnen, für die ein Anspruch gegen die Staatskasse besteht, | = PKH-Verfahrensgebühr |
so vermindert sich der Anspruch gegen die Staatskasse | = auf die PKH-Verfahrensgebühr |
nur insoweit, als der Rechtsanwalt/die Rechtsanwältin durch eine Zahlung auf die anzurechnende Gebühr und den Anspruch auf die ohne Anrechnung ermittelte andere Gebühr insgesamt mehr als den sich aus § 15a Absatz 1 ergebenden Gesamtbetrag erhalten würde. […] | = Differenz
Wahlanwaltsverfahrensgebühr – PKH-Verfahrensgebühr |
Nach neuem Recht ergibt sich damit im Beispiel folgende Berechnung:
I. Außergerichtliche Vertretung
- 1,3-Geschäftsgebühr, Nr. 2300 VV (Wert 6.000,00 €)
- Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV
Zwischensumme
- 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV
Gesamt
II. Berechnung des Anrechnungsfreien Betrags
- 1,3- Verfahrensgebühr Nr. 3100 VV, § 13 RVG (Wert 6.000,00 €)
2. ./. 1,3-Verfahrensgebühr Nr. 3100 VV, § 49 RVG (Wert 6.000,00 €)
Differenz
III. Gerichtliches Verfahren
- 1,3-Verfahrensgebühr Nr. 3100 VV, § 49 RVG (Wert 6.000,00 €) 383,50 €
- gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV, § 13 RVG anzurechnen,
0,65 aus 6.000,00 € davon nach § 58 Abs. 2 S. 2
RVG anrechnungsfrei zur Anrechnung verleiben
- 1,2-Terminsgebühr, Nr. 3104 VV, § 49 RVG (Wert: 6.000,00 €)
- Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV
Zwischensumme
- 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV
Gesamt
507,00 €
20,00 €
527,00 €
100,13 €
627,13 €
507,00 €
-383,50 €
123,50 €
383,50 €
-253,50 €
123,50 €
-130,00 €
354,00 €
20,00 €
497,50 €
119,23 €
616,73 €
Aufgrund des Gleichlaufs der Gebührenbeträge des § 13 RVG und des § 49 RVG ergibt sich bei Werten bis 4.000 Euro keine anrechnungsfreie Differenz. Hier ist voll anzurechnen.
Bei Werten von über 4.000 Euro ergibt sich zunächst eine teilweise Anrechnung, wie in Beispiel 1. Bei höheren Werten entfällt die Anrechnung gänzlich, sobald die Gebührendifferenz höher ausfällt ist als die hälftige Geschäftsgebühr.
Beispiel 2
Wie vorstehendes Beispiel; der Gegenstandswert beträgt 50.000 Euro.
I. Die außergerichtliche Vergütung berechnet sich nach den Wahlanwaltsgebühren wie folgt:
- 1,3-Geschäftsgebühr, Nr. 2300 VV (Wert: 50.000,00 €)
- Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV
Zwischensumme
- 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV
Gesamt
1.662,70 €
20,00 €
1.682,70 €
319,71 €
2.002,41 €
II. Der anrechnungsfreie Betrag errechnet sich wie folgt:
1,3-Verfahrensgebühr Nr. 3100 VV, § 13 RVG (Wert 50.000,00 €)
./. 1,3-Verfahrensgebühr Nr. 3100 VV, § 49 RVG (Wert 50.000,00 €)
Differenz
1.662,70 €
-791,70 €
871.00 €
III. Damit ist jetzt ein höherer Betrag anrechnungsfrei als anzurechnen. Im gerichtlichen Verfahren ist daher wie folgt zu rechnen:
- 1,3-Verfahrensgebühr Nr. 3100 VV, § 49 RVG (Wert 50.000,00 €) 791,70 €
- gem. Vorbem. 3 Abs. 4 VV, § 13 RVG anzurechnen,
0,65 aus 50.000,00 €
davon nach § 58 Abs. 2 S. 2 RVG anrechnungsfrei zur Anrechnung verleiben
- 1,2-Terminsgebühr, Nr. 3104 VV, § 49 RVG (Wert: 50.000,00 €)
- Postentgeltpauschale, Nr. 7002 VV
Zwischensumme
- 19 % Umsatzsteuer, Nr. 7008 VV
Gesamt
791,70 €
-831,35 €
871,00 €
-0,00 €
730,80 €
20,00 €
1.582,15 €
293,08 €
1.875,23 €
Der Anwalt/die Anwältin muss diese Berechnungen nicht selbst vornehmen. Der Anwalt/Die Anwältin muss lediglich gem. § 55 Abs. 5 S. 2 und 3 RVG mitteilen, welche Zahlung er/sie auf die Geschäftsgebühr erhalten hat. Es ist dann Sache des Urkundsbeamten, die Berechnung vorzunehmen. Sache des Anwalts/der Anwältin ist es dann allerdings, diese Berechnung zu überprüfen und dann, wenn der Urkundsbeamte – was leider häufig vorkommt – falsch rechnet, Erinnerung nach § 56 RVG einzulegen.
Diese Erinnerung ist unbefristet. Die unterliegt lediglich der Verwirkung, wenn der Anwalt/die Anwältin zu lange wartet.